Papier ist geduldig – Brockhaus nur noch online

12. Februar 2008

Robert erwähnt es nur der Vollständigkeit haber, für mich markiert es einen – subjektiven – geschichtlichen Wendepunkt: Der Brockhaus soll nicht mehr auf Papier erscheinen. Die 21. Ausgabe wird voraussichtlich die letzte sein, meldet Wikipedistik. Nach Millionenverlusten will der Herausgeber-Verlag BIFAB sein Geschäft mit der Enzyklopädie nun online machen.

Was bedeutet das faktisch? Eine Menge Bäume bleiben stehen (ich geh gleich draußen mal einen umarmen und erzähl ihm das), eine Menge Regalbretter bleiben leer (wie reagiert IKEA?) und das gesammelte Brockhaus-Wissen wird kostenlos online verfügbar (Werbung machts möglich).

Was bedeutet das emotional? Ich mag Papier, Rascheln, Blättern. Als Kind habe ich mit meinem Vater Nachmittage vor dem Brockhaus zugebracht. Wir sind von einem Stichwort aufs nächste gekommen, auf die abwegigsten Dinge. Der Brockhaus stand ganz oben im Regal, unerreichbar. Mein Vater kam dran oder hob mich hoch und war sozusagen der Gatekeeper zum Wissen der Welt. Dass ich irgendwann auf einem Stuhl und Zehenspitzen selbst einen Band rausangeln konnte, war für mich ein Meilenstein. Schade, dass ich mit meinen Kindern vielleicht vor einem Bildschirm sitzen muss und sie Wissen nicht mehr be-greifen können. Aber vielleicht ist das falsche Sentimentalität und die Vorteile überwiegen doch.

Robert fragt, wie man an der Dominanz von Wikipedia kratzen möchte. Ein entscheidender Faktor könnte sein, wie gut es BIFAB schafft, sich auf aktuellen Content einzustellen. Die Produktionszyklen müssen radikal umgestellt werden, von Monaten oder gar Jahren auf Tage. Wenn ich im Online-Brockhaus geprüften und ausgewogenen Content zu Themen finde, die mich momentan interessieren, würde ich solche Artikel ggf. sogar der Wikipedia vorziehen. Warum auch nicht? Die Wikipedia ist fantastisch, aber darüber muss man ihre Schwachstellen nicht ignorieren.

Vielleicht noch entscheidender: Schüler und Studenten werden in den nächsten paar Jahren noch mit dem „Wikipedia ist nicht zitierfähig“-Dogma sozialisiert. Wikipedia ist deshalb so beliebt, weil sie kostenlos Wissen verfügbar macht und vielen Lernenden die Recherche vereinfacht. Wenn sie ihre Quelle dann nicht einmal mehr verschämt verschweigen müssen, um so besser!

Ich bin gespannt, wie BIFAB mit der Werbung umgehen wird. In einer Enzyklopädie könnte mich das noch mehr stören als in Suchmaschinen und Social Networks. Irgenwie imponiert mir, bei aller bisheriger Verweigerungshaltung des Verlages, das absolute Bekenntnis zum relativen Neuland Internet. Aber jetzt schau ich auf mein Konto, ob ich mir noch den letzten 30-bändigen Print-Brockhaus leisten kann. Hier steht schon ein fünfbändiger, ein Geschenk meines Vaters. Aber wie gesagt, ich mag Papier.

Update: Robert weist auf eine Pressemeldung hin, nach der uns auch die Druckversion erhalten bleiben soll.

3 Antworten to “Papier ist geduldig – Brockhaus nur noch online”


  1. […] 2: Ein wie ich finde wundervolle Beschreibung vom Zauber der Bücher (bezugnehmend auf den Verzicht, den Brockhaus weiter zu drucken): Was bedeutet das emotional? Ich […]


  2. […] Stimmen zum Thema: Robert Basic, Till Achinger, Wikipedistik, […]


  3. […] auch hier alles digital darstellen, kein Thema. Doch das haptische Erlebnis des Papiers (das Till wunderbar beschrieben hat), die Verwandlung von Worten & Gedanken in eine fassbare Einheit, sind durch Hypertexte […]


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